
|
|
Die blaue Stunde
Zur Farbe in den Bildern
von Anneli Schwager
Wer die Augen öffnet, sieht Farbe. Die Gegenstände, die Zeichen
und die Strukturen unserer Umwelt, sie alle heben sich nur durch ihre
farblichen Unterschiede ab. Farbe zu sehen als Farbe - und nicht als Eigenschaft
von Dingen - das ist an sich etwas Elementares, jedoch kein leichtes Unterfangen,
angesichts der heutigen massiven Bilderflut. Ihr zu entkommen, das vermögen
die Kunst und die Natur.
So folgt die Malerin Anneli Schwager der Farbe. Sie empfindet sie als
eine "riesige Welt in sich". Farben sind für diese Künstlerin
nicht austauschbar, Gemälde nicht in beliebigem Kolorit wiederholbar;
denn jede Farbe, so Schwager, will sich in ihrer eigenen Form ausbreiten.
Ein solches Vorgehen entspringt nicht einer Laune, es ist Stück für
Stück gereift, in langjährlicher Arbeit erprobt und geübt,
damit die Idee, der Beginn jedes
Kunstwerkes, sich zum klangreichen Farb-Akkord vervollständigen kann.
Ist die Farbe der "Hauptakteur", das wesentliche Element ihrer
Bilder, fallen im Atelier die verschiedenen Formate auf. Mal breiten sich
die Bildträger wie ein langes Band in die Horizontale aus, mal ragen
sie wie schmale hohe Türme empor und sind, den vorherrschenden
Farben entsprechend, als "Roter Turm" oder "Grüner
Turm" betitelt.
Auch der Farbe Blau widmet Anneli Schwager einen solchen drei Meter hohen
Turm. Seine fünf übereinander gestaffelten Bildsegmente, auf
denen die blauen Farben lasierend oder dicht aufgetragen sind, in fließenden
Übergängen nuancenreich verlaufen oder an einzelnen Stellen
von klarer und reiner Farbwirkung sind, durchzieht eine weiße Säule.
Sie wächst im untersten Bildsegment aus dunkelblauen, heftig und
gestisch gesetzten Pinselstrichen hervor und löst sich zuoberst in
lichten blau-weißen Äderungen auf. Der Farbklang des Bildes
aus weichen Hell-Dunkel-Modulationen weckt musikalische Assoziationen,
unterstützt durch den Titel "Gesang der Nachtigall".
|
|
Eine solche Korrespondenz
zwischen den Künsten lässt sich Jahrhunderte zurückverfolgen.
Schon Leonardo da Vinci verglich die Malerei mit "vielen verschiedenen
Stimmen, die sich miteinander verbinden und gleichzeitig singen".
Anfang des 20. Jahrhunderts verwendeten Künstler wie Paul Klee und
Wassily Kandinsky Farbe auf philosophische Weise. Sie verbanden den Ton
mit dem Timbre, die Farben mit den Tonstufen und Sättigung mit dem
Klangvolumen. So sprach Kandinsky, ein in höchstem Maße sensitiver
Künstler, ein Eidetiker, der über ein besonderes visuelles Vorstellungsvermögen
verfügte, von der Azurflöte, dem blauen Cello und vom schwarzen
Klang des Basses. Jede Farbe, aber auch jede Linie, geometrische oder
freie Form und jeder Gegenstand hatten für ihn einen "inneren
Klang".
Betrachten wir eine isoliert stehende Farbe, empfinden wir sie je nach
ihrer Sättigung als hell oder dunkel und in ihrem Charakter als warm
oder kalt. Tritt eine weitere Farbe hinzu, entstehen neue Gegensätze.
So bilden auf Anneli Schwagers Gemälde "Schöpfung"
die beiden Primärfarben Gelb und Blau einen Kontrast im Sinne von
Bewegung. Strahlt das warme Gelb nach außen, in die Peripherie,
zieht sich das kühle Blau in die Ferne zurück. Mit der Zeit
löst sich dieser weit leuchtende Farbklang in eine klare Melodie
auf und das Auge kann ihr von links nach rechts - wie beim Lesen einer
Buchzeile - nachgehen. Hierzu lädt allein das ungewöhnliche
Bildformat von vier Metern Länge ein, das in sechs klappbare Teile
gegliedert ist. Schritt für Schritt entwickelt sich nun das
Spiel kraftvoll pulsierender Flächen und akzentuiert gesetzter Lineaturen,
in einem fließenden Strom sich bewegend oder schnell in Sprüngen
vorangehend, um zuletzt sanfter und ineinander verwoben zurückzukehren
in den blauen Bildgrund. Ein blaues Kolorit eröffnet den Augen einen
weiten Raum, vermag in eine träumerische Ruhe zu versetzen, weckt
in uns Sehnsucht und erinnert
an einen einzigen stillen Moment in der Natur: die blaue Stunde zwischen
Nacht und Tag, wenn alle Geräusche der Nacht plötzlich verklingen,
bevor der Morgengesang der Vögel einsetzt.
Annekathrin Stoll
|
|